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Verkannt

Letzte Woche las ich in der Zeitung einen kuriosen Artikel. Darin gab die Internationale Rot-Kreuz-Kommission in Genf bekannt, dass Generalfeldmarschall Göring einen Befehl unterzeichnet hat, wonach alle britischen Piloten, die in Kriegsgefangenschaft geraten, ungeachtet ihres Ranges wie Offiziere behandelt und in die für Offiziere vorgesehenen Lager eingesperrt werden sollen. Ist dies nicht eine frohe Ankündigung in dieser Zeit von erbarmungslosen Hass- und Vergeltungsneigungen? Ist es nicht doch ein Zeichen, dass sich die allgemeine Mentalität ändert und dass die Großzügigkeit noch nicht völlig verschwunden ist? – Libelle 1940, Nr. 11, Seite 11

Herr Göring machte ein Dekret,
Worin ganz deutlich steht: Gerät
Bei uns in Kriegsgefangenschaft
Ein Flieger, kriegt er’s fabelhaft.

Er kriegt es ganz enorm, denn wir
Behandeln ihn als Offizier.
Herr Göring hat bei sich gedacht,
Das hab ich wieder fein gemacht.

Solch schöne Geste wirkt direkt,
Es wird damit von mir bezweckt
Und wird damit von mir erreicht,
Dass mancher Engländer sich leicht

Ergibt und ohne viele Müh
Dem Streit entsagt und so wird früh
Des Feindes Luftmacht sehr geschwächt,
Denn jeder R.A.F.-Mann möcht

In deutsche Kriegsgefangenschaft,
Für Churchill ist das ekelhaft,
Für Deutschland ist das wunderschön,
Man wird schon sehn, man wird schon sehn.

Und außerdem: Die ganze Welt
Wird sagen, Hitlerdeutschland hält
In Ehren hoch die Menschlichkeit
Man ist entzückt und ist erfreut

Mit dem was Deutschland hat getan,
Man sieht klar: Deutschland ist human
Und unser deutsches Renommee
Wird damit besser sein als je.

Man sieht, das deutsche Militär
Kämpft ritterlich und ist so fair
Und fällt ein Feind in deutsche Hand,
Dann wird er, das ist nun bekannt,

Behandelt wie ein Ehrengast,
Ja, die Gefangenen sind fast
Noch besser als zuhause dran,
Das war, als grad der Krieg begann.

Inzwischen sind fünf Jahr vorbei,
Man kennt die deutsche Barbarei
Nun überall, das Erdenrund
Verlangt aus tiefstem Herzengrund

Um von der Nazi-Hochkultur,
Von Marterung und von Tortur
Und von der deutschen Grausamkeit
Erlöst zu werden und befreit

Der Deutsche nennt sich ritterlich
Und er beklagt sich bitterlich,
Man hat nicht gern mit ihm zu tun,
In allen Länder ist er nun

Verachtet, er fühlt sich verkannt
Bei jedem Volk, in jedem Land,
Fühlt sich verabscheut und verhasst,
Man sieht ihn nicht mehr gern als Gast.

Er wird geschnitten, boycottiert
Und fühlt sich drüber sehr choquiert
Und fühlt beleidigt und gekränkt,
Dass man nur Schlechtes von ihm denkt.

Er kommt sich vor als Sündenbock,
Als Prügelknabe, den der Stock
Der bösen Welt zu Unrecht trifft,
Des Feindes Propagandagift,

Meint er, hat diese Welt verhetzt
Er fühlt beleidigt und verletzt
Sich als das reinste Unschuldslamm,
Das man beworfen hat mit Schlamm,

Fühlt sich zum schwarzen Schaf gemacht
Und wähnt in’s Unglück sich gebracht
Durch dunkler Mächte blinden Hass,
Denn Deutschland hat ohn Unterlass
Das Allerbeste nur getan
Vor allen Dingen war’s – human.

Transkription: Thilo von Debschitz