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Titelseite / Einführung Inhaltsverzeichnis

„Grimm”iges Märchen

(siehe Umschlagbild)

Einst gab es ‘ne Leipziger Straße,
Es ist schon lange her,
Nun gibt’s nur noch ‘ne Trümmermasse
Alles ist wüst und leer.

Es gab noch keine Hungersnöte
Nein, es gab Wurst im Überfluss
Und der Salami lichte Röte
War für das Auge ein Genuss.

Die Gänsebrüste und die Schinken
Sie waren lieblich marmoriert
Und schienen dem Passant zu winken:
Wohl dem, der sich an uns traktiert.

Es war’ne Zeit voll Glück und – Würsten
Ihr lebtet da wie im Gedicht,
Ihr lebtet wirklich wie die Fürsten,
Doch ach, ihr wusstet‘s selber nicht.

In jener Zeit konnt noch ein Mädchen
Mit ihrem Freund spazierengehn
Man kaufte Wurst und kaufte Brötchen
Für’s Picknick, das wird man verstehn.

Man kauft’ auf der Leipzigerstraße
Das was man nötig hatte ein,
War man vielleicht auch knapp bei Kasse
Das hindert nicht am Glücklichsein.

Und nach dem Einkauf fuhr das Pärchen
Per Straßenbahn zum Grunewald
Sie liebten sich dort wie im Märchen,
Doch leider kam es anders bald.

Denn Adolf kam dann zur Regierung,
Er nahm die Sache in die Hand
Und dank der weisen Hitlerführung
Geschah’s, dass erst die Wurst verschwand.

Und Butter, Speck und Fettigkeiten
Kaffee und Tee verschwanden auch,
Doch trotz der Magerkeit der Zeiten
Behielt Herr Göring seinen Bauch

Man sah nicht mehr die Schinkenlocken
Wie einst so delikat-kokett
Man aß die Butterbrote trocken
Und ohne Wurst und ohne Fett.

Die schönen Wurstdekorationen
Der alten Zeit, die gab’s nicht mehr,
Man brauchte Bomben und Kanonen,
Drum wurde das Schaufenster leer.

Doch damit war es nicht zu Ende,
Der Jüngling wurde bald Soldat,
Sein Mädchen rang zunächst die Hände,
Doch fügt’ sich dann des Führers Rat.

Nach Russland ist er dann gegangen
Und starb den deutschen Heldentod
Sein Mädchen hatt’ verhärmte Wangen.
Und weinte sich die Äuglein rot.

Doch hat sie nicht sehr lang ertragen
Den schweren Kummer und den Gram
Denn kürzlich wurde sie erschlagen,
Als eine Fliegerbombe kam.

Der Jüngling und das Mädchen starben,
Die schöne Straße liegt in Schutt,
Millionen leben noch und darben
Und denken: Wir gehn bald kaputt.

Dem Führer krümmt man noch kein Härchen,
Millionen tragen stumm ihr Leid,
Es ist ein bitter, grausam Märchen,
Das „grimm“ige Märchen dieser Zeit.

Transkription: Thilo von Debschitz